1. Kulturhistorische Ausrichtung
Gegen die Dominanz der Ereignisgeschichte, die Anonymität der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die Ausblendung des geschichtlichen, handelnden Menschen und die Grobmaschigkeit der Gesellschaftsgeschichte mit ihren Rastern aus Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur im Sinne der Hochkultur, richteten sich seit den 1980er Jahren neuartige Forschungsrichtungen innerhalb der Geschichtswissenschaft, die vor allem von der Neueren Geschichte ausgingen. Trotz unterschiedlicher Fragestellungen und Methoden ist ihr gemeinsamer Nenner und Leitbegriff der der Kultur. Dabei wird der Kulturbegriff nicht mehr in der alten Bezeichnung für Hochkultur (Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaft) gebraucht, sondern neu definiert und verwendet: Kultur umfasst einerseits alles, was soziale Gruppen und Individuen prägt, andererseits das, was der menschliche Geist hervorbringt, von Gedanken, Wahrnehmungen und Deutungen über Ausdrucksformen, Erfahrungen und Empfindungen bis hin zu Handlungen einschließlich der Symbole, Sinngehalte und Bedeutungen menschlichen Denkens und Handelns und der sich aus ihnen ergebenden Verflechtungen. Kultur ist damit ein Begriff, der auf Dynamik, Prozesse und Wandel verweist und zugleich die Aneignung, Veränderung, Gestaltung und Tradierung der Welt, ihrer Strukturen und Bedingungen durch den individuell oder kollektiv geleiteten Menschen bezeichnet. Im Idealfall ist der kulturhistorischen Perspektive an einer wechselseitigen Betrachtung gelegen: Es wird untersucht, wie einzelne Menschen oder Gruppen innerhalb vorgegebener gesellschaftlicher und historischer Gegebenheiten ihr Leben gestalteten und zugleich Gesellschaft im Kleinen und Großen prägten. Im Mittelpunkt kulturhistorischer Ansätze stehen daher nicht abstrakte Institutionen, Staatsgebilde, Wirtschafts- oder Gesellschaftssysteme, sondern die soziokulturelle Praxis und das Interagieren von Menschen.
Insbesondere die Historische Anthropologie beschäftigt sich mit den menschlichen Erfahrungshorizonten in ihren historischen Ausprägungen, indem sie nach den Anteilen der Menschen als Akteure der Geschichte fragt und dabei subjektive und individuelle Momente als Handlungs- und Denkvariablen ebenso ernst nimmt wie kollektive. Da sie den Menschen als deutendes und handelndes Wesen begreift, stellt er aus ihrer Perspektive einen entscheidenden Faktor für die historische Dynamik und den Gang der Geschichte dar. Historische Anthropologie lehnt demzufolge das Paradigma von der Determiniertheit des Subjektes durch soziale, politische oder ökonomische Bedingtheiten und Strukturen ab und versucht stattdessen den Anteil des Menschen an der Geschichte - nicht nur des Adligen oder Bürgers, sondern auch der Prostituierten, des Diebes, der Waisen oder des Dienstboten - zu rehabilitieren. Sie operiert entsprechend mit einem weiten Kulturbegriff: Kultur ist das, was Individuen oder Gruppen prägt, was aber zugleich durch individuelle und kollektive Praxis gestaltet wird. Sie äußert sich in Interaktionen, über Erfahrung, Handeln, Interpretieren, Reflektieren, Sinnstiftungen, Bedeutungszuschreibungen, Imaginationen, Verhaltensweisen oder Identitäten und umfasst die Summe dessen, wie Menschen ihre soziale und natürliche Umwelt erfahren, diese deuten, überdenken und mit bzw. in ihr handeln. Diese Summe ist derart vielschichtig, dass sie (1) nur im mikroanalytischen Rahmen, in sog. "kleinen Lebenswelten" untersucht werden kann und man (2) von Kultur im Plural sprechen muss, d. h. von der je eigenen, aber keinesfalls unabhängigen Kultur einer Gruppe, einer Schicht, einer Klasse, eines Geschlechts, eines Raums oder eines Zeitabschnittes. Historische Anthropologie fragt damit nach der kulturellen Vielfalt, möchte historische Individuen und Gruppen in ihrer je eigenen Logik erkennen, menschliche Erfahrungen etwa mit Tod, Arbeit, Alter, Körper, Religion, Umwelt, Raum, Zeit, dem anderen Geschlecht oder der Familie historisieren und den je spezifischen kulturellen Ausdrucksformen sowie dem Beitrag der Menschen an der historischen Dynamik auf die Spur kommen.
Indem Historische Anthropologie nach den Dimensionen menschlicher Erfahrungen fragt und individuelle Lebenserfahrungen in Beziehung zur lebensweltlichen Praxis bringt, setzt sie ein Grundverständnis von Geschichtsbetrachtung voraus, das es sich zum Anliegen macht, fremde Rationalitäten und Logiken und andersartige Welt- oder Einsichten aus dem ihnen je eigenen historisch-kulturellen Kontext heraus zu begreifen, anzuerkennen und als für uns heute erklärungsbedürftig zu analysieren. Eine solche Historisierung erfordert eine besondere Art der Übersetzungsarbeit und der Entzifferung der Eigenarten früherer Kulturen. Als verstehende Wissenschaft im Sinne der Übersetzung uns heute fremder, vergangener Lebenswelten, die nach kulturellen Bedeutungen und spezifischen sozialen Logiken fragt, hat die Historische Anthropologie methodische Gemeinsamkeiten mit der Kultur- und Sozialanthropologie und der Ethnologie und ist auf Interdisziplinarität angelegt.
2. Schwerpunkt historische Frauen- und Geschlechterforschung
Die historische Geschlechterforschung nahm ihren Ausgang Ende der 1970er Jahre von der Frauengeschichte, einer "Spurensuche" nach den Frauen in der Geschichte, nach weiblichen Lebensformen, Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten. Ihr wissenschaftliches Anliegen war neben der Sichtbarmachung des weiblichen Anteils am Prozess der Geschichte auch eine Durchbrechung der bis dahin gültigen Grundannahme in der Geschichtsschreibung, dass Männergeschichte Menschheitsgeschichte sei. Mit dieser Perspektivenverschiebung verbanden sich theoretisch-methodische und inhaltliche Infragestellungen, etwa zu bisherigen Periodisierungen, die sich an der Politikgeschichte der "großen Männer" orientierten.
Die Frauengeschichte hat sich in den 1980er und 1990er Jahren zur Geschlechtergeschichte gewandelt, der es darum geht, das Verhältnis beider Geschlechter in der Geschichte, den Wandel sowie die Folgen dieses Verhältnisses für Frauen und Männer zu untersuchen. Mit der historischen Kulturforschung und der Historischen Anthropologie verbindet sie das gemeinsame Interesse an der aktiven Rolle des Menschen an der Geschichte, hier in der erweiterten Perspektive des Menschen als Mann und Frau. Der Begriff "Geschlecht" - engl. "gender" - steht dabei für die historisch wandelbare, kulturell bedingte Konstruktion von Mann und Frau (bzw. Männlichkeit und Weiblichkeit) unter Einschluss ethnischer, religiöser und sozialer Differenz; der Begriff "Geschlecht" im Sinne von engl. "sex" umschreibt dagegen die biologische Determiniertheit von Mann und Frau. Als gesellschaftliche Konstrukte entlarvte die Geschlechtergeschichte neben Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen auch die gängigen Begriffspaare Öffentlichkeit/Privatheit und Kultur/Natur, mit denen eine Zweiteilung der Gesellschaft anhand angeblich 'natürlicher' Charaktereigenschaften und Fähigkeiten der beiden Geschlechter in eine öffentliche männliche und eine private weibliche Sphäre in der Geschichtsschreibung vorgenommen worden war. Schließlich stellte sie die Frage nach den Kriterien der historischen Relevanz: Ob also nur historisch relevant sei, was sich im Großen, durch Kriege, Staatsverträge oder Herrschaftssysteme, d. h. durch das politische Handeln von Männern, verändert habe, oder ob ebenso relevant sei, was Frauen in und für die Gesellschaft geleistet hätten, auch wenn ihnen die politische Mitbestimmung und Führung bis in die Neuzeit verweigert wurde.
Die historische Geschlechterforschung versteht sich zum einen als eine Teildisziplin der Allgemeinen Geschichte, zum anderen als eine neuartige Perspektive auf sämtliche historische Themenstellungen aller Zeitepochen und historischen Fachbereiche insgesamt. So können ihre Fragestellungen und Methoden dort, wo eine am traditionellen Politikbegriff, an Konstrukten wie Staat, Verfassung, Herrschaft, Bürger oder Menschen orientierte Geschichtswissenschaft kaum in der Lage war, etwa die politische Partizipation von Frauen und die geschlechtsspezifische Wahrnehmung von Machtverhältnissen, aber auch die Bedeutung sexuell besetzter politischer Symbolik überhaupt wahrzunehmen, zu einer differenzierteren Betrachtung der Vergangenheit beitragen. Über geschlechtsspezifische Untersuchungen konnten zum einen historische Ereignisse oder Veränderungen als von Frauen und Männern je anders wahrgenommene Erfahrungswerte analysiert werden, die geschlechtsspezifisch je andere Bedeutungen erlangten. Zum anderen entpuppte sich die Vergangenheit aus der geschlechtergeschichtlichen Perspektive sowohl als mehrschichtiger und komplexer als auch als weit mehrdeutiger als bisher angenommen. Das Quellenproblem stellt sich dieser Art der Geschichtsbetrachtung völlig anders und weit schwieriger, als dies für die traditionelle Geschichtsschreibung gilt.
Eines der Hauptthemen der historischen Geschlechterforschung bildet die Untersuchung der Genese und des Wandels von Frauen- und Männerbildern, d. h. von seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als 'natürlich' angenommenen (angeblich biologisch bedingten) Eigenschaften und Verhaltensweisen für die beiden Geschlechter. Zu dieser Zeit entstand in der bürgerlichen Gesellschaft das Konzept von der passiven, emotionalen, familienbezogenen Frau und vom aktiven, sachbezogenen, rationalen und auf Erwerbsleben wie Bildung orientierten Mann, ein Konstrukt mit weitreichenden Folgen für die Handlungsmöglichkeiten von Frauen und Männern bis heute. Insbesondere in diesem Kontext wird die auch für die Gegenwart wichtige Aufgabe der Geschlechtergeschichte greifbar: Eine kritische Reflexion geschlechtsspezifisch gedachter Rollen, Fähigkeiten und Aufgaben sowie gesellschaftlicher Klischees aus ihrer historischen Genese zu leisten und sie als kulturelle Konstrukte zu enttarnen.